Dr. Elisabeth Selbert Geboren am in Kassel Gestorben am in Kassel

Über Dr. Elisabeth Selbert

Die Kasseler Juristin Elisabeth Selbert wurde bekannt als eine der vier ‚Mütter‘ des Grundgesetzes. Nominiert für die SPD, setzte sie sich erfolgreich für die Gleichberechtigung im auszuarbeitenden Grundgesetz ein. Ihr ist es zu verdanken, dass die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in der BRD in Artikel 3 Abs. 2 festgeschrieben wurde.

Für die Mobilisierung der Frauen

Geboren wurde Elisabeth Selbert als Martha Elisabeth Rohde als zweite von vier Töchtern des Justizbeamten Georg Rohde und seiner Frau Elisabeth. Nach dem Besuch der Volksschule wechselte sie auf die Realschule, die sie ohne Reifezeugnis verließ, was sie später als „ein bitteres Unrecht“1  bezeichnete. Da ihr die Eltern den Besuch eines Gymnasiums nicht ermöglichen konnten, besuchte sie die Gewerbe- und Handelsschule des Kasseler Frauenbildungsvereins. Eine Stelle als Fremdsprachensekretärin verlor sie mit Beginn des Ersten Weltkrieges; erst ab 1916 war sie im Telegrafendienst der Post tätig. Dort lernte sie Adam Selbert kennen, den sie 1920 heiratete. Wie ihr Mann wurde Elisabeth Selbert Mitglied der SPD und engagierte sich in Kassel und Niederzwehren, dem gemeinsamen Wohnsitz, für die Mobilisierung der Frauen, die sie – als das Frauenwahlrecht eingeführt wurde – zum Gebrauch des neu gewonnenen Rechtes aufrief.2

Auf dem Weg zur eigenen Kanzlei 

Während ihrer Tätigkeit für die SPD stellte Elisabeth Selbert fest, dass eine politische Mitarbeit fundierte fachliche Kenntnisse erforderte3 , sodass sie sich zur Aufnahme eines Universitätsstudiums entschloss. Dafür holte sie zunächst ihr Abitur nach, das sie 1926 als erste Frau in Kassel in einer externen Prüfung bestand. Im selben Jahr begann die zweifache Mutter ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Marburg, das sie in der Regelstudienzeit von sechs Semestern abschloss; die Dissertation über ‚Ehezerrüttung als Scheidungsgrund‘ folgte im siebten Semester. Dass sie noch 1934 als eine der letzten Frauen zur Anwaltschaft zugelassen wurde, hatte Elisabeth Selbert zwei älteren Richtern des Kasseler Oberlandesgerichts zu verdanken, die die Zulassung in Abwesenheit des Präsidenten aussprachen. So konnte Selbert im gleichen Jahr in Kassel ihre eigene Kanzlei mit dem Schwerpunkt Familienrecht eröffnen.4  Unter der NS-Herrschaft erlebte Selbert als Anwältin, wie SA-Leute im Gerichtssaal saßen und die Gestapo die Rechtsprechung überwachte.5  Später berichtete sie von „kleinen Widerstandsleistungen“6  einiger Anwälte, die bemüht waren, ihre Mandanten vor der KZ-Haft zu bewahren.

Eine der Mütter des Grundgesetzes

Als politisch Unbelastete konnte Elisabeth Selbert bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Kanzlei wiedereröffnen. Gleichzeitig nahm sie ihr politisches Engagement für die SPD wieder auf. Sie war Mitglied von Spruchkammern und Ehrengerichten zur Entnazifizierung und maßgeblich beteiligt am Neuaufbau der Justiz in Hessen. Sie wurde sowohl in die Stadtverordnetenversammlung Kassel gewählt als auch in die Verfassungsberatende Landesversammlung für Groß-Hessen.

Ausweis als Abgeordnete der Verfassungberatenden Landesversammlung Groß-Hessen, 1946

Interessanterweise setzte sie sich hier nicht explizit für die Formulierung der Gleichberechtigung ein, sie ging davon aus, dass diese im neuen Land selbstverständlich sei. So ist es auch zu erklären, dass in der hessischen Landesverfassung eine dezidierte Nennung Gleichberechtigung fehlt, erst durch eine Volksbefragung 2018 wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter in die Verfassung eingefügt. 1948 wurde sie schließlich vom Land Niedersachsen für den Parlamentarischen Rat nominiert. Dort war sie unversehens mit dem Thema Gleichberechtigung konfrontiert. Den Grundsatz ‚Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘ hatte sie für selbstverständlich und außerhalb jedes Diskussionsbedarfs angesehen, aber es zeigte sich sehr bald, dass seine Durchsetzung viel Überzeugungskraft und großen Einsatz erforderte. Die Historikerin Gille-Linne weist darauf hin, dass die Formulierung zwar sehr schlicht war, die Auswirkungen aber sehr weitreichend waren, denn die Gleichberechtigung wurde nicht gefordert, sondern postuliert. Damit würde dieser Satz die Grundlage für eine grundlegende Reformierung großer Teile des BGB erzwingen, denn die alten Regelungen wären mit einem Schlag verfassungswidrig.7  Neben Selbert unterstützte nach anfänglichem Zögern auch Friederike Nadig, die zweite SPD-Frau im Parlamentarischen Rat diesen Vorschlag und auch männliche Sozialdemokraten plädierten, wenn teilweise auch etwas verzögert, für diesen Entwurf. Die beiden anderen Frauen, Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum) unterstützten die Gleichberechtigungsforderungen zunächst nicht. So wurde der Antrag der SPD in der 1. Lesung im Hauptausschuss mit 11 zu 9 Stimmen abgelehnt.

Resolution der Firma Henschel & Sohn GmbH betreff Grundgesetz, Art. 3.2.

Selbert hatte für diesen Fall bereits Widerstand angedroht, den sie nun mit tatkräftiger Unterstützung und logistischer Hilfe der SPD-Frauensekretärin Herta Gotthelf organisierte. Frauenverbände und Einzelpersonen schrieben daraufhin an den Parlamentarischen Rat und Selbert nutzte diese Eingaben geschickt, um ihr Ziel, die Formulierung der Gleichberechtigung im Grundgesetz, zu erreichen. Auch wenn die Legende der ‚Waschkörbe voller Eingaben‘ inzwischen als widerlegt gelten kann und es sogar Eingaben gab, die sich offensichtlich gegen die Gleichberechtigung aussprachen oder die viel zu spät den Parlamentarischen Rat erreichten, gelang es Selbert doch, soviel politischen Druck aufzubauen, dass die Formulierung schließlich durchging. In der entscheidenden Sitzung am 18. Januar 1949 wurde der Gleichheitsgrundsatz als unveräußerliches Grundrecht angenommen. Die Aufnahme des Satzes bedeutete die Verpflichtung des Gesetzgebers, alle dem Prinzip der Gleichberechtigung entgegenstehenden Gesetze anzupassen, was darauf hinauslief, dass viele der Eheregelungen, die im BGB um 1900 installiert worden waren, geändert werden mussten.8

Die Verabschiedung des Grundgesetzes war nach den eigenen Worten von Elisabeth Selbert die ‚Sternstunde ihres Lebens‘, doch im Grunde war es nur der Anfang. Es folgte ihre jahrzehntelange Beteiligung an der Anpassung des patriarchalisch geprägten Familienrechts an den Gleichberechtigungsanspruch der Verfassung. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass sich Selbert nie als ‚Frauenpolitikerin‘ verstanden hat. Sie war überzeugte Sozialdemokratin und kämpfte darum, sozialdemokratische Politik durchzusetzen. Karin Gille-Linne kommt daher zu dem Schluss: „Es waren also im ParlR nicht die Frauen, die gegen die Männer für die gleichen Rechte kämpften. Es war kein gewaltiger Proteststurm, der schließlich zur Annahme des Artikels führte. Die Durchsetzung des SPD-Antrags war vielmehr das Ergebnis einer politischen Kampagne. Und es war eine parteipolitisch und rhetorisch geschickt agierende Elisabeth Selbert, die den Protest wesentlich größer erscheinen ließ als er tatsächlich war.“9

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, beschlossen in Bonn am 08.05.1949 mit Anmerkungen von Elisabeth Selbert

Ein unermüdlicher Einsatz für (gleiche) Rechte 

Anschreiben des Bundesministers der Justiz, vom 10. Mai 1951, betreff Nachlieferung eines Lebenslaufes und einer Veröffentlichungsliste zur Bewerbung als Bundesverfassungsrichterin; Brief von Dr. Adolf Arndt, Abgeordneter im Deutschen Bundestag, vom 7. September 1951, betreff u. a. Bewerbung Selbert als Bundesverfassungsrichterin

Elisabeth Selbert musste nach dem Krieg feststellen, dass das Thema Gleichberechtigung für viele Wähler und vor allem Wählerinnen nicht von Interesse war; viele konzentrierten sich zunächst auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes. Sie selber hatte keine Chance, an prominenter Stelle die Umsetzung von Artikel 3 Abs. 2 mit zu gestalten. Selbert kandidierte zwar für den ersten Bundestag, konnte allerdings kein Mandat erringen. Auch die Nominierung zur ersten Richterin am Bundesverfassungsgericht scheiterte. Während ihrer Zeit als SPD-Abgeordnete im Hessischen Landtag widmete sie sich selbst einer Vielzahl von Angelegenheiten, die nicht nur ‚Frauenthemen‘ waren. So galt ihr Einsatz beispielsweise der Entnazifizierung, der Verbesserung der rechtlichen Lage psychisch kranker Menschen sowie dem sozialen Wohnungsbau.10

In ihrer Kanzlei, die sie bis ins 86. Lebensjahr führte, verschrieb sich Elisabeth Selbert, die für eine abgeschlossene Berufsausbildung von Frauen vor der Ehe plädierte, vor allem der Ausbildung junger Anwältinnen.

Späte Würdigungen

1956 wurde Elisabeth Selbert das Bundesverdienstkreuz verliehen, danach wurde es erst einmal still um die ‚Mutter der Gleichberechtigung‘. Ihr Engagement wurde vergessen, bis Forscherinnen der neu entstehenden Frauengeschichtsforschung an Selberts Leistungen wieder erinnerten. 1969 erhielt sie den Wappenring der Stadt Kassel, 1978 die Leuschner-Medaille, 1983 wurde ihr zu Ehren vom Land Hessen der Elisabeth-Selbert-Preis ins Leben gerufen und ein Jahr später verlieh ihr die Stadt Kassel die Ehrenbürgerrechte, die höchste städtische Auszeichnung.

Der Nachlass von Elisabeth Selbert liegt im Archiv der deutschen Frauenbewegung und kann online in einem Findbuch recherchiert werden.

Stand: 22. September 2022
Verfasst von
Cornelia Wenzel

wissenschaftliche Dokumentarin im Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel.

 

Dr. Kerstin Wolff

Historikerin im Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel, hier für die Forschung zuständig.

Empfohlene Zitierweise
Cornelia Wenzel/Dr. Kerstin Wolff (2022): Dr. Elisabeth Selbert, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de./akteurinnen/elisabeth-selbert
Zuletzt besucht am: 01.05.2024

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Zitate von Dr. Elisabeth Selbert

Biografie von Dr. Elisabeth Selbert

Geburt in Kassel

Am 22. September kommt Martha Elisabeth Rohde in Kassel zur Welt. Sie ist die zweite von
vier Töchtern des Justizbeamten Georg Rohde und seiner Frau Elisabeth, geb. Sauer.

1912

Als Mädchen muss Elisabeth Selbert die Realschule ohne Mittlere Reife verlassen. Da ihre
Eltern den Besuch eines Gymnasiums nicht finanzieren können, besucht sie für ein Jahr die
Gewerbe- und Handelsschule des Kasseler Frauenbildungsvereins.

1913

Elisabeth Selbert findet Anstellung als Auslandskorrespondentin bei der Kasseler Import- und
Exportfirma Salzmann & Co. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs verliert sie ihre Stelle.

1918

Eintritt in die SPD

1920

Hochzeit mit Adam Selbert

1926

Elisabeth Selbert besteht als erste Frau in Kassel die externe Abitur-Prüfung.
Aufnahme eines Jura-Studiums in Marburg

1930

Promotion über »Die Zerrüttung als Ehescheidungsgrund« – 47 Jahre bevor die sozialliberale Koalition das »Schuldprinzip« abschaffte.

1933

Adam Selbert wird von den Nationalsozialisten seines Amtes als stellvertretender
Bürgermeister von Niederzwehren enthoben. Die Familie ist nun auf das Einkommen
Elisabeth Selberts angewiesen.

1934

Selbert legt ihr zweites juristisches Staatsexamen in Berlin ab. Sie wird als Anwältin zugelassen und eröffnet in Kassel eine eigene Kanzlei mit dem Schwerpunkt Familienrecht.

1943

Bei einem alliierten Luftangriff auf Kassel wird die Kanzlei Selberts zerstört.

1945

Zulassung als Strafverteidigerin am amerikanischen Militärgericht und Wiedereröffnung der
eigenen Kanzlei

1946 - 1955

Elisabeth Selbert wird Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung des Landes Hessen sowie des SPD-Parteivorstandes, dem sie bis 1955 angehört.

1948 - 1949

Als Mitglied des Parlamentarischen Rates ist Elisabeth Selbert an der Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Ihrem Einsatz ist die Aufnahme der Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art. 3 Abs. 2) zu verdanken.

Das Grundgesetz wird am 23. Mai verkündet.

1956

Elisabeth Selbert erhält das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

1969

Verleihung des Wappenringes der Stadt Kassel

1978

Auszeichnung mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen

1983

Das Land Hessen initiiert den Elisabeth-Selbert-Preis, der an Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen verliehen wird.

1984

Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Stadt Kassel

Tod in Kassel

Elisabeth Selbert stirbt am 9. Juni. Sie hat ein Ehrengrab auf dem Friedhof in Kassel-Niederzwehren.

Fußnoten

  • 1Böttger, Barbara: Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990, S. 125.
  • 2Vgl. Dertinger, Antje: Elisabeth Selbert. Eine Kurzbiographie, Wiesbaden 1986, S. 11.
  • 3Vgl. Böttger: Das Recht auf Gleichheit und Differenz, S. 133.
  • 4Barthel, Elke: Dr. Elisabeth Selbert, in: Sabine Köttelwesch / Elke Böker / Petra Mesic (Hg.): 11 Frauen, 11 Jahrhunderte, Kassel 2013, S. 156.
  • 5Vgl. Böttger: Das Recht auf Gleichheit und Differenz, S. 162.
  • 6zitiert nach Dertinger: Elisabeth Selbert, S. 18.
  • 7Siehe: Gille-Linne, Karin: Verdeckte Strategien. Herta Gotthelf, Elisabeth Selbert und die Frauenarbeit der SPD 1945-1949, Bonn 2011; Dieselbe: Gleichberechtigt! Die Sozialdemokratinnen Elisabeth Selbert und Herta Gotthelf im Kampf um Art. 3 II Grundgesetz 1948/49, in: Ariadne, H. 75, 2019, S.44-57.
  • 8Vgl. Dertinger: Elisabeth Selbert, S. 48. Siehe auch: Jank, Dagmar: Die Frauenrechtlerinnen Minna Cauer (1841-1922) und Elisabeth Selbert (1896-1986), in: Klein, Helene / Krone, Klaus (Hg.): civitas. Denkimpulse und Vorbilder, Potsdam 2003, S. 44‒51, hier S. 50.
  • 9Gille-Linne: Gleichberechtigt, S. 53.
  • 10Dertinger: Elisabeth Selbert, S. 29.